Kirchliche Kunst (hier Malerei und Skulptur) war nie bloße Illustration nach dem Motto: Wer des Lesens nicht mächtig ist, kann ja Bilder anschauen.
Jedes Bild ist eine Neu-Schöpfung, eine Er-Findung, die eine theologische Realität erfasst.
Um 1300 n. Chr., ausgehend von Nordfrankreich/ Flandern, taucht solch ein neues Motiv auf: das „Vesperbild“, das drastisch den geschundenen gequälten, in Todesstarre verzogenen, Leichnam Jesu mit dem Bild der trauernden, in herrschaftlicher Würde und Schönheit sitzenden Mutter kontrastiert, mehr Bild der Kirche als der eben leidgeprüften Mutter. Kein biblischer Text kennt diese Gleichzeitigkeit der beiden, im Bild vereinten, Ausdrucksformen. Aus persönlicher Erfahrung, aus Empathie, aus mitleiden könnendem Gemüt entspringt ein „neues“ theologisches Bild, das weit über die menschliche Erfahrung hinausreicht.
Da ist zunächst das Bild der Mutter Maria, die das Kind in ihren Armen hält. Anders als hier ist bei vielen Vesperbildern (selbst noch bei der Pietà Michelangelos) der tote Jesus kindhaft klein und lässt Maria so stärker als Mutter ihres Kindes erscheinen, oft ist umgekehrt die Mutter des Vesperbildes nicht gealtert und erscheint so eher als Braut.
Schauen wir unser Bild an, so gibt es uns gleichsam das wieder, was Gott in seinem Schmerz sieht: dass er in diesem Moment aus menschlicher Sicht her endgültig mit seinem Sohn gescheitert ist.
Es zeigt seinen Sohn, verraten und verlassen von seinen Jüngern, verurteilt und ausgeliefert von seinem Volk, von den Heiden als Verbrecher ans Kreuz geschlagen. Aus dem Kind ist der Gescheiterte geworden, ihn hält die Mutter (Kirche) in den Armen.
Klarste Theologie, wie sie nur eine Kirche hervorbringen kann, die ihre eigene Schuld, ihre Zerrissenheit reflektiert und bekennt. Und flehentlich nach Erneuerung an Haupt und Gliedern ruft.
Nun stehen wir aber nicht nur vor einem Bild dieser Kirche, sondern vor dem im Volksmund „Armenseelenaltar“ genannten Altar der schmerzhaften Muttergottes in Weinhaus, sozusagen mitten unter uns.
Wenn wir die Inschrift „Gedenket der Armen Seelen“ ernst nehmen, dann dürfen wir der Frage, was heute an uns unerlöst im Fegefeuer sitzt, nicht ausweichen. Unser neugotisches Bild verweist z. B. auf eine Not, die bis in unsere Gegenwart schmerzhaft das Gesicht der Kirche prägt: Das Auseinanderfallen von Kirche und moderner Gestaltung, was nicht nur ein ästhetisches Problem ist.
Seit dem 19. Jh. taucht eine Welt auf, die scheinbar auf Religion verzichten kann, und die Kirche ihrerseits fand und findet vielfach den Zugang zu dieser modernen Welt nicht. Und viele empfinden wohl auch dieses Auseinanderfallen nicht so stark, es nimmt der Kirche aber eine Form der Sprache in unserer Zeit.
Auch unser Bild spricht davon, es ist Ausdruck dieser „Wunde“: Der unbekannte Künstler findet keine „zeitgenössische Sprache“ für die Glaubens-Erfahrung dieses Bildes, so greift er zurück auf die Darstellungsmuster einer früheren Epoche, eben des 13., 14. Jh., erreicht aber nicht mehr die Dichte früherer Jahrhunderte. In nicht wenigen Beispielen öffnete dieses Nichtfinden dem Kitsch die Tür in der Kirche und der Welt überhaupt.
Und noch eines: Es bedarf der fast schon simplen Malerei der drei Kreuze im Hintergrund, um überhaupt den Ort des Geschehens zu bezeichnen, nichts schimmert in dem Kunstwerk davon durch, dass hier mit Maria die Tochter Zion, die Jungfrau Israel sitzt, denn nur dies anzeigend kann Maria auch als Mutter Kirche verstanden werden, die den toten Jesus zu tragen hat.
Dieser Altar wird viele von uns, denen die Katholische Kirche und der Kirchenraum von St. Josef-Weinhaus noch vertraut, ja sogar Heimat geworden sind, ansprechen. Es gibt aber die große Zahl von Menschen, die ein solches Bild bereits übersehen, sich jedenfalls von ihm nicht mehr mit der Frage konfrontieren lassen, wer dieser Jesus von Nazareth ist, und kaum werden sie sich den in der Inschrift genannten Armen Seelen zurechnen.
Das lässt bei uns die Frage zurück: In welcher Sprache können wir ihnen erzählen, was wir im Glauben gesehen haben, so, dass es auch ihr Denken und Empfinden erreicht?
Bruno Alber